Bedeutung der Stille für uns Alle aus Sicht einer christlichen Ordensfrau

Sr. Edith-Maria
Generaloberin der Franziskanerinnen von Waldbreitbach

Sehr geehrte Damen und Herren,

im September gingen erschreckende Bilder um die Welt: Hunderte von
Grindwalen verendeten vor der Küste Australiens.
Verzweifelte Tierschützer bemühten sich, die gestrandeten Tiere zurück
ins offene Meer zu bringen, doch viele verendeten qualvoll.
Wale sind soziale Tiere, die in Gruppen zusammenleben und dank ihrer
besonderen Echolotung in Kontakt stehen. Für die Resonanz, den
Widerhall, ist darum Stille unabdingbar.
Doch der ‚Krach‘ im Meer, die Lärmverschmutzung durch Sonarsignale
von Schiffen und U-Booten, ist laut Experten eine der Hauptursachen
dieses Wal-Sterbens.
Denn sie beeinträchtigen die Navigationsfähigkeit, Orientierung und
Resonanz, die überlebensnotwendig ist für diese so faszinierenden Ur-
Tiere …

Auch wir Menschen sind tagtäglich von Lärm umgeben. Viele von uns
haben sich daran gewöhnt, viele von uns leiden darunter und sehnen
sich nach Stille.

Schon immer haben Menschen die Stille gesucht- und manche suchten
sie in radikalen Lebensentwürfen.
So liegen die Ursprünge des Mönchtums in der Suche nach Stille. In der
Frühzeit waren es die Ein-Siedler, die sich in die Einsamkeit begaben,
um in der Stille vor Gott zu sein, auf der Suche nach der Wahrheit und
der Weisheit des Lebens.

Sie haben sich von außen nach innen gewandt, haben inne gehalten, um
zu neuen Inhalten zu kommen. Zu dem, was ihrem Leben Richtung und
Sinn verleiht; Navigation, Orientierung und Resonanz.

Aus der Hirnforschung wissen wir um die frühkindliche Bedeutung der
Resonanz, die sich entscheidend auf unsere Persönlichkeitsentwicklung
auswirkt.

Auch in unseren Tagen suchen Menschen diesen inneren Kompass,
nicht wenige ziehen sich auch heute für einige Zeit in Klöster oder
Einsiedeleien zurück, um sich in der Stille zu ordnen, neu zu orientieren
auf ihrem Lebensweg.

Für uns Christen ist Stille nicht ein sich verlieren, oder gar ein Auflösen
im Nichts, vielmehr führt uns die Stille in die Begegnung mit Gott, in
göttliche Resonanz.

Sie ist tiefste personale Beziehung.
Denn: »Am DU gewinnt sich das ICH.« 1
Liebende wissen um diese beglückende Erfahrung.

Vor rund 800 Jahren hat der heilige Franziskus, unser Ordensgründer,
im Brief an den gesamten Orden [Ord] 2 seine Brüder zur Stille
eingeladen:
„Neigt das Ohr eures Herzens [Neh 8,6] und gehorcht der Stimme des
Sohnes Gottes.“

Hier scheint der tiefe Sinn unseres Gehorsams-Gelübdes auf:
ein aktives waches Da-sein, eine Haltung des achtsamen Hörens auf
das Wesentliche.

Das hat nichts mit einem passiven Über-sich-ergehen-lassen zu tun, was
im ecclatanten Widerspruch zu der gottgegebenen Freiheit und Würde
der Person stünde.

Dazu eine Begebenheit aus dem Leben des Propheten Elija vor der Zeit
des Babylonischen Exils 3 [einige Jahrhunderte vor Christi Geburt]:

In seinem unermüdlichen Kampf für Gott gegen die heidnischen Könige
wird Elija verfolgt und gerät in Lebensgefahr.

Mürbe begibt er sich in die Wüste und wünscht sich den Tod. Doch Gott
schickt ihm Brot und Wasser und so gestärkt begibt sich Elija auf einen
40 tägigen Wüstenweg zum Gottesberg Horeb (Sinai).
Dort zieht er sich in eine Höhle zurück.
Die Höhle ist Sinnbild des Inneren Raumes, des Rückzugs.

In diesem Raum spricht Gott ihn ganz persönlich an:
»Was willst du? «
Und Elia klagt Gott sein Leid.
»Komm heraus und stell dich vor den Herrn«, fordert Gott ihn auf und
zieht an ihm vorüber:
ein großer und gewaltiger Sturmwind, der die Berge zerreißt und Felsen
zerbricht.
In dem Sturmwind aber ist Gott nicht.
Nach dem Sturmwind kommt ein Erdbeben.
In dem Erdbeben aber ist Gott nicht.
Nach dem Erdbeben kommt ein Feuer.
In dem Feuer aber ist Gott nicht.
Nach dem Feuer aber kommt das Flüstern eines sanften Windhauchs.
In diesem schwachen Windhauch zeigt sich Gott. In einer Stimme
verschwebenden Schweigens (Martin Buber).

Da tritt Elia hinaus und stellt sich dem Herrn.

Diese wundersame Gottes-Begegnung liegt lange zurück.

Und doch trifft sie im Kern genau das, was für uns Ordenschristen so
existenziell ist: dass wir uns immer wieder aus dem aktiven Leben in die
Stille begeben, um diese Stimme verschwebenden Schweigens tief in
uns zu erspüren, und dem nahe zu kommen, was Gott für uns will.

Vor wichtigen Entscheidungen, etwa der, ein Leben lang als Ordensfrau
zu leben, begeben wir uns in 30tägige Exerzitien. In einem Monat der
Stille öffnen wir uns der tiefen Beziehung mit Gott, um die Entscheidung
zu wägen und zu festigen.

Einmal im Jahr nehmen wir an 10tägigen Exerzitien teil, um uns in
geistlichen Übungen in Stille auf unserem Ordensweg neu zu ordnen.

Einmal monatlich ziehen wir uns an einem Wüstentag in die Stille
zurück,

und täglich suchen wir in der persönlichen Meditation die Stille auf.

In der Balance, in der Ausgewogenheit von Aktion und Kontemplation
erfahren wir innere Kraft, Trost und Freude.

Selbst ein ganz kurzer Augenblick der Stille ist wie eine Sabbatruhe, ein
heiliges Innehalten. (Gedanke aus Taizé)

Auch das schweigende Verweilen in der Natur, das in und mit-der
Schöpfung-Sein, ist eine besondere Kraftquelle.
Und Kennzeichen franziskanischer Spiritualität.

Anders als bei Thomas von Aquin 4 , dem großen Gelehrten aus dem
Dominikanerorden, dessen auf Ratio und Kognition fußender
Erkenntnisgewinn in der Theologie bis in die Gegenwart hinein hohe
Anerkennung genießt, lädt der große franziskanische Gelehrte
Bonaventura 5 dazu ein, Erkenntnis zu verkosten.

Thomas geht es um die Scientia, die Wissenschaft, vom Lateinischen
scire: wissen, kennen, können.

Bonaventura hingegen sucht die Sapientia, die Weisheit, vom
Lateinischen sapere: schmecken, verkosten, verständig sein.

Stille hilft uns, dass die Weisheit des SEINS vom Kopf ins Herz gelangt
und in uns eine Haltung erzeugt, eine Sehnsucht weckt, die uns
schweigend uns selbst Gott hinhalten lässt.

Von solcher Erfahrung schreibt Søren Kiergegaard:

»Als mein Gebet immer andächtiger und innerlicher wurde, da hatte ich
immer weniger und weniger zu sagen.
Zuletzt wurde ich ganz still.
Ich wurde, was womöglich noch ein größerer Gegensatz zum Reden ist,
ich wurde ein Hörer.
Ich meinte erst, Beten sei Reden.
Ich lernte aber, dass Beten nicht bloß Schweigen ist, sondern Hören.
So ist es: Beten heißt nicht, sich selbst reden hören.
Beten heißt still werden und still sein und warten,
bis der Betende Gott hört. «

Ja, »Stille kann stillen«… 7
Eine wunderbare Erfahrung.

Für mich als Ordensfrau in einem oft hektischen Führungsalltag ist es
lebensnotwendig, immer wieder die Stille zu suchen und dem inneren
Kompass zu folgen, damit mir Navigation, Orientierung und Resonanz
nicht abhanden kommen.

So lausche ich täglich in die Psalmen hinein, wo mein Gott mich lockt:
Sei still und erkenne, dass ich Gott bin [Ps 46,11]
Sei still und erkenne 8
Sei still
Sei


Quellen und Autoren

1 Martin Mordechai Buber (1878 – 1965) österreichisch-israelitischer jüdischer
Religionsphilosoph: „Ich und Du,“ Dialog als anthropologisches Prinzip des Menschen
2 Franz von Assisi ( 1181/82 – 1226) Begründer des Ordens der Minderbrüder,
Franziskaner : „Brief an alle Brüder und den gesamten Orden“ [Ord]
3 Altes Testament, Buch der Könige [1 Kön 19,4-13]
4 Thomas von Aquin (1225 – 1274) Dominikaner, Kirchenlehrer, einer der einflussreichsten
Philosophen und der bedeutendste katholische Theologe der Geschichte
5 Bonaventura da Bagnioregio (1221 – 1274) Franziskaner, einer der bedeutendsten
Philosophen und Theologen der Scholastik, Generalminister der Franziskaner und Kardinal
von Albano
6 Søren Aabye Kierkegaard (1813-1855) dänischer Philosoph, Theologe und Schriftsteller
7 Andreas Knapp „Was wirklich nährt“ in ‚ganz knapp-Gedichte an der Schwelle zu Gott‘
Verlag echter 2020
8 Esther Schweins‚ Prominente erzählen, wie sie beten‘ in ‚Der Sonntag‘ Kirchenzeitung für
das Bistum Limburg Nr. 37, 73. Jahrgang, 13. September 2020, S. 4